Leipzig – Der norwegische Theologe und Politiker Inge Lønning (71) ist am 22. Oktober in Leipzig mit dem Willy-Brandt-Preis 2009 geehrt worden. Lønning habe als Präsident der Norwegisch-Deutschen Gesellschaft, als Professor und Politiker – er war Vizepräsident des Storting und Präsident des Lagting – jahrzehntelang einen wesentlichen Beitrag zum Ausbau der norwegisch-deutschen Beziehungen geleistet, heißt es in der Begründung der Stiftung. Kai-Axel Aanderud sprach mit dem Preisträger.
Professor Lønning, welche persönliche Beziehung haben Sie zu Deutschland?
Lønning: Als junger Stipendiat studierte ich 1967 ein Semester lang an der Universität Tübingen und schrieb dort an meiner Dissertation. Sie erschien auf deutsch und wurde in München publiziert. Seit jener Zeit pflege ich das zu meinen theologischen Kollegen an den deutschen Universitäten bestehende Netzwerk. Ich unterhielt auch viele Kontakte zu Kollegen in der ehemaligen DDR. Während meiner Tübinger Zeit lehrte übrigens der heutige Papst als Professor an der katholischen Fakultät der Universität.
Später, nachdem ich mich der Politik zugewandt hatte, war ich stets bemüht, meine guten, alten Verbindungen zwischen Norwegen und Deutschland zum Wohle beider Länder einzusetzen. Auf dem Gebiet gibt es große Potentiale, davon bin ich überzeugt. Heute unterhalten wir Verbindungen zum Europaparlament und kooperieren eng mit der Europäischen Volkspartei, deren Mitglieder auch CDU/CSU und Høyre sind. Ferner gibt es die Norwegisch-Deutsche Freundschaftsgruppe im Storting, die sich – und das ist wichtig – aus Parlamentariern aller Fraktionen zusammensetzt. Ihre Existenz ist bemerkenswert, da sie kein Bestandteil unseres parlamentarischen Systems ist. Denn wir kennen die Tradition formeller Freundschaftsgruppen nicht, wie andere europäische Parlamente sie haben. Um so dankbarer bin ich, daß wir sie haben etablieren können.
Welche Bedeutung hat Deutschland, hat die deutsche Sprache im Storting und in der norwegischen Politik?
Lønning: Ich glaube, die Zeit liegt im Großen und Ganzen hinter uns, in der es einem Teil der Norweger psychologisch schwerfiel, ein unbelastetes Verhältnis zu Deutschland zu entwickeln. Ich glaube sogar, dieser Wendepunkt läßt sich präzise datieren: Ich war sogenannter „Ehrenbegleiter“ des deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, als dieser Norwegen im September 1986 einen offiziellen Staatsbesuch abstattete. König Olav V. war damals 84 Jahre alt, und die Ereignisse des Jahres 1940 standen ihm natürlich unverändert lebhaft vor Augen. König Olav nahm den Bundespräsidenten mit nach Elverum, nahm ihn mit zum acht Meter hohen Königsbautastein, der an das „Nein!“ König Haakons vom 10. April 1940 erinnert. Sowohl das norwegische als auch das deutsche Fernsehen waren dabei, und die Botschaft König Olavs an die Norweger war offensichtlich: Nun schließen wir jenes dunkle Kapitel ab, nun schlagen wir ein neues Kapitel auf. von Weizsäcker verstand diese Botschaft natürlich und reagierte elegant: Hatte er all seine Reden während des Staatsbesuches dem Protokoll folgend bislang auf deutsch gehalten, so hielt er seine Rede in Elverum nun spontan auf englisch; es war eine ergreifende Erinnerungsrede an König Haakon VII.
Glücklicherweise entwickeln sich die norwegisch-deutschen Beziehungen auf vielen Gebieten positiv, das sollten wir nicht vergessen. Wir verfügen über viele gute Deutschlehrer in Norwegen, wir haben ein blühendes Goethe-Institut und die norwegisch-deutsche Willy Brandt-Stiftung. Ich bin einige Jahre lang Präsident der Norwegisch-Deutschen Gesellschaft gewesen, die sich seit vielen Jahren erfolgreich darum bemüht, das Interesse der Norweger an Deutschland zu steigern; ihre Vortragsabende sind stets gut besucht, regelmäßig informieren sich 100, 150 Zuhörer über deutsche Literatur, deutsche Politik und deutsche Kultur. Auch die Deutsch-Norwegische Handelskammer in Oslo spielt eine aktive Rolle.
Und für eine Vielzahl norwegischer Unternehmen im ganzen Land ist Deutschland der wichtigste Handelspartner – nicht zuletzt deswegen scheint mir das Erlernen der deutschen Sprache so wichtig zu sein. Heute stehen die meisten Norweger auf dem Standpunkt, die Deutschen verstünden doch Englisch, daher müsse man sich nicht anstrengen und Deutsch lernen. Diese Schlußfolgerung ist nach meiner Beobachtung aber falsch: In Norwegen glaubt man, Englisch sei die dominierende Sprache in Europa, was mitnichten der Fall ist. Dabei wird übersehen, daß das Europa östlich von Deutschland immer noch in hohem Maße von der deutschen Sprachtradition geprägt ist. Es gibt viele gute Gründe, unsere jungen Menschen stärker zu ermuntern, Deutsch zu lernen. Denken Sie nur an die Karrierechancen, die junge Norweger mit guten Deutschkenntnissen in der norwegischen Energiewirtschaft haben!
Norwegische Schülerreisen nach Deutschland führen jedoch meist nur nach Sachsenhausen und zurück…
Lønning: Die pädagogische Aufgabe für norwegische Lehrer, die mit norwegischen Schülern nach Deutschland fahren, sollte darin bestehen, diese Reise in den Geschichts- und Zeitgeschichtsunterricht einzubetten. Wer junge Menschen auf einer solchen Fahrt begleitet, der sollte die Verpflichtung verspüren, ihnen zu vermitteln, daß die Geschichte nicht 1945 endet.
Zurück in die Zukunft: Wie weit ist die norwegische „Deutschland-Strategie“ gediehen?
Lønning: Die kulturelle Zusammenarbeit wird sich aus eigener Kraft weiterentwickeln, davon bin ich überzeugt. Sie bedarf keiner besonderen politischen Maßnahmen. Norwegische Künstler haben den Weg nach Berlin aus eigenem Antrieb und eigenem Interesse ge-funden. Wenn es denn stimmt, daß es heute mehr norwegische Künstler in Berlin gibt als in Oslo, so hätten wir wieder das Niveau des 19. Jahrhunderts erreicht, als Ibsen und alle bedeutenden norwegischen Künstler sich vorzugsweise im Ausland aufhielten, entweder in Deutschland oder in Italien. Denken Sie nur an alle diese urnorwegischen Landschaftsmalereien, sie sind nahezu ausnahmslos in Deutschland entstanden! Wir kehren allmählich zum „Business as usual“ zurück, und das finde ich sehr positiv. Es war von großer Symbolik für die dynamische kulturelle Entwicklung, daß Bundeskanzlerin Angela Merkel als einzige ausländische Regierungschefin an der Eröffnung der Osloer Oper teilnahm.
Auch die Deutschen haben nach meinem Eindruck längst den Weg nach Norwegen gefunden, vor allem als Touristen: Jahr für Jahr kehren sie zurück, mieten dieselben Hütten und angeln. Darüber hinaus haben wir natürlich gemeinsame Interessen beispielsweise in der Energie- und Umweltpolitik. Es ist aufschlußreich, daß nicht nur E.ON Ruhrgas, sondern auch die Verbundnetz Gas AG sich stark in Norwegen engagiert und eine Niederlassung in Stavanger gegründet hat. Und in allen Fragen rund um die Barentssee und unsere Nordgebiete ist Deutschland der für Norwegen zweifellos wichtigste europäische Kooperationspartner.
Was wünschen Sie der Norwegisch-deutschen Freundschaftsgruppe für die Zukunft?
Lønning: Die Bedeutung derartiger informeller Gruppen bei der Herausbildung internationaler Netzwerke wächst. Die Freundschaftsgruppe macht es über Parteigrenzen hinweg möglich, Gemeinschaftsinitiativen der norwegischen Politik gegenüber Deutschland zu erörtern, unserem wirtschaftlich wichtigsten und kulturell bedeutendsten Kooperationspartner also. In dieser Zusammenarbeit kann Norwegen viel gewinnen und absolut nichts verlieren. Und vergessen wir in Norwegen nicht, wer 1972 und 1994 unser treuester Verbündeter in der Europäischen Union war, als wir in Brüssel verhandelten – Deutschland.
Professor Lønning, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
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